Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus 2012

Vortrag zu den Verbrechen an kranken und behinderten Menschen

 

Seit einigen Jahren lädt der Geschichtsverein am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus zu Vortragsveranstaltungen ein, die im Gedenken und Erinnern jeweils einen örtlichen oder regionalen Bezug herstellen. So war die Verfolgung der Niersteiner Juden das Thema eines Vortrages, weiterhin das Entstehen des Nationalsozialismus in Nierstein und die konsequente Durchdringung des gemeindlichen Lebens, ebenso wie die Geschichte des Konzentrationslagers Osthofen, in dem als erste Opfer auch Sozialdemokraten und Kommunisten aus Nierstein gefangen gehalten wurden.
 

Bei diesem Vortrag ist erstmals dargestellt worden, dass es auch Opfer der Verbrechen an behinderten und kranken Menschen aus Nierstein gegeben hat.

Im Vortrag von Nina Klinkel, der jungen Historikerin aus Mommenheim, die sich in ihrer Magisterarbeit mit dem Thema beschäftigt hatte, wurde am 27. Januar 2012 im Niersteiner Rathaus an die Verbrechen an kranken und behinderten Menschen erinnert und dabei folgende Schwerpunkte angesprochen:

  • Auf dem Weg zur "Euthanasie": "Rassenideologie" und gesetzliche Umsetzung
  • "Kindereuthanasie": Die Tötung der Jüngsten im Kleid der Wissenschaft
  • Die "Aktion T4": Die perfekte Bürokratisierung eines Massenmordes
  • Die "dezentrale"/regionale Phase der "Euthanasie": Verhungern und Vergiften
   

Als "Euthanasie" bezeichneten die Nationalsozialisten den Mord an etwa 300.000 behinderten und psychisch kranken Menschen. In verschiedenen Phasen wurden Kinder und Erwachsene, deren Leben als "unwert" betrachtet wurde, umgebracht. 1939 bis 1941 waren im Rahmen der sogenannten "Aktion T4" hierfür eigens Heil-und Pflegeanstalten mit Gaskammern ausgestattet.

Auch nachdem 1941 die "T4" auf öffentlichen Druck gestoppt worden war, ging das Morden weiter. Ärzte und Pfleger töteten mittels Medikamenten-überdosierung und Nahrungsentzug bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur 1945. Um die Entwicklungen bis 1945 voll begreifen zu können, leitete ein Exkurs zur Ideologie den Vortrag ein.

 

Nicht nur das ausgeklügelte System der "Euthanasie" und die regionale Umsetzung wurden in dem Vortrag betrachtet, sondern auch die Frage nach dem "Wer?": Wer geriet in die Maschinerie der Nationalsozialisten? Gab es signifikante Unterschiede was die Herkunft oder den sozialen Status der Opfer betraf? Die Ergebnisse einer soziodemographischen Analyse der Opfergruppe sollen hier, wenigstens in Ansätzen, zum Tragen kommen.

Der Vortrag betrachtete diese Geschehnisse mit einem regionalen Bezug. Rheinhessen verfügte über eine eigene Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Alzey. Ihr kam im Rahmen der nationalsozialistischen "Euthanasie" eine große Bedeutung als "Stammanstalt" zu. Hier nahm für viele rheinhessische "Ballastexistenzen", wie die Kranken verfemt wurden, der Leidensweg seinen Anfang und endete meist in der Gaskammer in Hadamar bei Limburg. Auch aus Nierstein stammende kranke und behinderte Menschen wurden ermordet.

Nina Klinkel konnte in ihrem Vortrag darstellen: vier der ehemaligen Alzeyer Opfer stammten mit Sicherheit aus Nierstein. August, Johanna, Anna Maria und Anton wurden zwischen 1942 und 1944 auf dem Eichberg, in Hadamar und Goddelau getötet. Sie waren damals zwischen 39 und 77 Jahre alt.

Insgesamt wurden nach aktuellem Forschungsstand etwa 800 Rheinhessen 1939 bis 1945 Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie". Bei einigen Anstaltspatienten ist das Schicksal ungewiss. So verliert sich beispielsweise der Weg von Elisabeth und Georg Friedrich aus Nierstein im Strudel der Zeit. Nur wenige überlebten, beispielsweise weil sie gute Arbeiter waren und in den Anstalten gebraucht wurden.

 
Für Jakob, einen Gärtnergehilfen, und Luise, eine Hausangestellte aus Nierstein könnte dies zutreffen. Die meisten jedoch, gingen von Alzey aus in den Tod.

Die "Euthanasie", wie die Nazis die Ermordung kranker und behinderter Menschen nannten, läutete schließlich auch den Auftakt zum Genozid an der jüdischen Bevölkerung ein. Nicht nur die Tötungs- und Ausdrucksweise, der Tod im Gas, die als Duschen getarnten Kammern, der Jargon, der von "Desinfektion" sprach und Töten meinte, ähnelten sich, sondern es wurden auch Organisationsstrukturen und teilweise gar das Personal der "Euthanasie" in die Konzentrationslager übernommen. Was mit der Ermordung der Psychiatriepatienten, der psychisch Kranken und behinderten Menschen begann, endete im Holocaust.

   

 

 

Geschichtsverein Nierstein, September 2012