"Erste Zuflucht Rundsporthalle - Nierstein erlebt die Wende und den Mauerfall"

Vor 25 Jahren fiel am 9. November 1989 die Mauer in Berlin. Die grausame und nahezu unüberwindliche Grenze, die Deutschland so lange in West und Ost geteilt hatte, war endlich wieder offen. Erreicht hatten dies die Bürger der ehemaligen DDR, diejenigen, die - so 1. Vorsitzender Hans-Peter Hexemer beim Geschichtstreff im November - "aus der Empörung über die Zustände den Mut gewannen, gegen die Zustände zu kämpfen, und diejenigen, die geflohen sind." Bereits in den ersten Augusttagen im Jahr 1989 hatte eine beispiellose Fluchtwelle eingesetzt: Hunderte DDR-Bürgerinnen und Bürger flüchteten während eines "Picknicks" der Paneuropa-Union über die ungarisch-österreichische Grenze. Am 10. September 1989 erlaubte Ungarn die Ausreise aller DDR-Bürger - tausende hielten sich damals als Urlauber in diesem Land auf. Besonders in Erinnerung blieben jedoch die Bilder aus der Prager Botschaft, in die annähernd 5.000 DDR-Bürger geflohen waren, um ihre Ausreise zu erzwingen: Am 30. September 1989 gingen die Worte von Außenminister Genscher, dass die Ausreise seitens der DDR-Regierung bewilligt worden war, in grenzenlosem Jubel unter. Dies war der Anfang vom Ende der DDR. Doch das konnten die Flüchtlinge damals noch nicht ahnen. Für sie begann eine ungewisse Zeit: mittellos, ohne Arbeit, fern von ihren Familien und Freunden. Wie es ihnen in Nierstein erging, wo sie für eine Übergangszeit in der Rundsporthalle eine erste Zuflucht fanden, das war Thema des diesjährigen Geschichtstreffs vom Geschichtsverein Nierstein. "Nicht die große Geschichtsschreibung, sondern das, was nicht in den Büchern steht, was jeder mit sich herumträgt, und was nicht aufgeschrieben ist", so Hans-Peter Hexemer, solle bei diesen Treffen festgehalten werden.     Geschichtsverein Nierstein e.V.

Rund 50 Teilnehmer waren ins Weingut Mann gekommen. Hans-Uwe Stapf, 2. Vorsitzender des Vereins, hatte die Veranstaltung vorbereitet und führte noch einmal den Ablauf der Ereignisse vor Augen: Am Abend des 12. September waren die ersten Übersiedler an der Rundsporthalle eingetroffen, wo die Helfer vom Deutschen Roten Kreuz, der Freiwilligen Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks rund 80 Betten und das Nötigste für ihren Aufenthalt eingeräumt hatten. Fast zwei Monate hielten sich die Übersiedler in der Rundsporthalle auf, die erst am 6. November 1989 wieder geräumt wurde. Der 1. Vorsitzende des DRK Ortsvereins Nierstein-Oppenheim Hermann Scherer zog damals Bilanz: Es wurden ca. 8.000 ehrenamtliche Stunden von DRK-Helfern geleistet. Hinzu kommen noch die ungezählten Stunden der anderen Helfer - von der FFW und dem THW und privat engagierten Niersteiner Bürgerinnen und Bürger.
Bei der von Hans-Uwe Stapf moderierten Gesprächsrunde im Weingut Mann wurden viele Erinnerungen wach, als einige der zahlreichen Helfer von ihrem damaligen Engagement erzählten:

GVN     Gerhard Walter, DRK-Bereitschaftsführer, und Lilo Krebs, Leiterin des DRK-Verpflegungszugs. Das DRK kochte mit etwa 30 Helfern Essen in einer Bundeswehrküche, die im Keller der Oppenheimer Grundschule stand. In Spitzenzeiten wurden bis zu 110 Übersiedler verköstigt. Tagsüber gingen die Helfer zur Arbeit und abends in die Rundsporthalle.
Erwin Wilmer koordinierte als Geschäftsführer des DRK Kreisverbands Mainz-Bingen den Einsatz der verschiedenen Ortsvereine. Hans Raddeck, Wehrführer der FFW Nierstein, kümmerte sich um die Planung der Einsätze der FFW vor Ort. Paul Laun (FFW Nierstein) war rund um die Uhr vor Ort, half als Begleiter bei Behördengängen, Bewerbungsgesprächen, Arztbesuchen und vielem mehr. Wehrführer Hans Raddeck: "Paul Laun war die Mutter der Kompanie!" Margit Mühlbach packte nach einem Zeitungsaufruf mit ihrer Cousine das Auto mit Kleiderspenden voll und fuhr "einfach" zur Rundsporthalle.

Mit einem jungen Paar entwickelte sich eine Freundschaft, die bis heute besteht. Margarete und Reinhold Mayer kümmerten sich intensiv um ein Übersiedler-Ehepaar. Und Roswitha Reinhardt holte wochenlang die komplette Wäsche der Übersiedler nach Hause, wusch und bügelte sie und brachte sie wieder zurück. Später nahm ihre Familie ein junges Ehepaar mit einem Baby bei sich zuhause auf.

Viele der Flüchtlinge kehrten in die ehemalige DDR zurück als feststand, dass diese Grenze endgültig aufgehört hatte zu bestehen. Doch einige blieben, so auch Heike Hainz-Hentschel, die damals nicht als Flüchtling kam, sondern als 20-Jährige ausgebürgert wurde: Als ihrem Ausreiseantrag entsprochen wurde, musste sie innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen. Sie wurde im Hotel Sironahof untergebracht und war seinerzeit von der großen Hilfsbereitschaft beeindruckt, für die sie noch heute große Dankbarkeit empfindet. Irene Krayer lebt noch heute in Oppenheim und arbeitet im AZ-Redaktionssekretariat. Sie konnte damals wegen der Windpockenerkrankung ihrer Tochter nicht in der Rundsporthalle bleiben und wohnte deshalb für einige Monate im Martin-Luther-Haus in Oppenheim.

GVN

 

Das Thema dieses Geschichtstreffs wird ausführlich in der nächsten Ausgabe der Niersteiner Geschichtsblätter (2015) behandelt. Wer noch weitere Informationen hat, etwas dazu erzählen möchte oder alte Fotos besitzt, wird gebeten, sich bei Hans-Uwe Stapf zu melden (Telefon 06133/59383).


Fotos:
(1) 2. Vorsitzender Hans-Uwe Stapf hatte den Geschichtstreff organisiert und moderierte den Abend. Foto: Axel Schwarz

(2) Freiwillige Helfer erzählten von ihren Erlebnissen vor 25 Jahren: So auch Margarethe Mayer (stehend) und Paul Laun (Bildmitte mit Ehefrau Erna). Foto: Axel Schwarz

(3) In Spitzenzeiten wurden bis zu 110 Übersiedler in der Rundsporthalle verköstigt. Foto: Lilo Krebs

     
     
     
     

Nierstein, Januar 2015