Niersteiner Geschichte

Ansprache von Hans-Peter Hexemer, Vorsitzender des Geschichtsvereins Nierstein, bei der ersten Verlegung von Stolpersteinen am 22. Juni 2013

"Heute kehren die Namen von 30 Niersteinerinnen und Niersteinern, die allesamt Opfer des Terrors der Nationalsozialisten geworden sind, zurück in unsere Stadt:

Rina Kohlmann, Erna Metzger, Ernst Alfred Grünebaum, Stella Grünebaum, Berthe Inge Grünebaum, Alois Koch, Anna Koch, Frieda Koch, Heinrich Koch, Emma Hirsch, Jenny Sonneberg, Ferdinand Sonnenberg, Emmi Sonnenberg, Willy Wolf, Flora Wolf, Liesel Wolf, Franziska Weiler, Markus Weiler, Dr. Julius Weiler, Kurt Weiler, Georg Eberhardt, Adolf Aron Feiner, Paula Feiner, Auguste Feiner, Jakob Schuch jun., Jakob Schuch sen., Nikolaus Lerch, Johann Eller, Cerry Eller und Adam Schmitt.

Sie lebten mitten unter anderen Niersteinern. Ihre Verfolger haben Sie ausgegrenzt und gedemütigt, haben ihnen ihre bürgerlichen Rechte entzogen und ihre Würde genommen, haben sie verhaftet und gefoltert, zur Flucht ins Exil oder in den Selbstmord getrieben, haben sie deportiert und in Lager gesperrt, um sie zu ermorden, am Ende fabrikmäßig organisiert und sie haben schließlich Menschen im Angesicht ihrer Heimat auf dem Kornsand erschossen.

Ihre Namen waren über Jahrzehnte in dieser Stadt kaum mehr bekannt. Einzelne sprachen von jüdischen Familien, die in der Rheinstraße, im Oberdorf oder hier auf dem Tempelhof wohnten. Wo genau – wer genau? Es herrschte mehr Schweigen. Am 21. März kamen und kommen bis heute immerhin einige zusammen auf dem Kornsand, um der politischen Gegner zu gedenken, die dort ermordet wurden. Ihre Namen stehen auf dem Gedenkstein. Von den meisten Opfern verloren sich die Spuren.

Heute nun kommen mit den Stolpersteinen, die verlegt werden, die Namen der Opfer in unsere Stadt zurück und den Menschen wird ein Stück der Würde zurück gegeben, die ihnen genommen wurde. Heute werden diese Männer und Frauen wieder aufgenommen in unsere Stadt und sie bleiben – mit ihren Namen als stete Erinnerung und Mahnung für uns und die kommenden Generationen. Betrachten wir diese Heimkehr als eine Verpflichtung. So wird der 22. Juni 2013 als ein guter Tag in die Geschichte unserer Stadt eingehen.

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie als 1. Vorsitzender des Geschichtsvereins und für unseren engagierten Arbeitskreis sehr herzlich hier auf dem Tempelhof am Beginn der Verlegung der Stolpersteine in Nierstein. Ihre Anwesenheit unterstreicht die Bedeutung des Gedenkprojekts und signalisiert ihre Unterstützung.

Ganz besonders herzlich begrüße ich den Künstler Gunter Demnig aus Köln, den Initiator dieses inzwischen europaweit vernetzten Gedenkprojekts. Für dieses Projekt hat er hohe Anerkennung erfahren. Jeder Stolperstein ist von ihm gestaltet und sein Werk. Und auch um die Inhalte hat er zum Teil mit uns gerungen. Ich freue mich sehr, dass Sie heute die ersten Gedenksteine in Nierstein selbst verlegen und den ganzen Tag bei uns sind.

Für die Stadt grüße ich den Stadtbürgermeister Thomas Günther MdL, der nach mir ein Grußwort sprechen wird. Zugleich danke ich für Genehmigung zur Nutzung des öffentlichen Raumes und die Unterstützung des Bauhofes. Ebenso danke ich für die Unterstützung des Ordnungsamtes und begrüße den zuständigen Dezernenten Beigeordneten Bernd Neumer, zugleich in Vertretung von Bürgermeister Klaus Penzer.

Grüßen möchte ich Sie von der Landtagsabgeordneten Pia Schellhammer, die leider wegen anderer Termine nicht hier sein kann, ebenso unser Geschichtsfreund Adam Schmitt, der Vorsitzende der Heimatfreunde am Mittelrhein.

Ich freue mich sehr über Anwesenheit meines Freundes Dieter Burgard, dem Vorsitzenden der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in unserem Land. Dieter Burgard wird heute früh der dritte Redner sein.

Danke sage ich Reinhard Schütz und Claudia Kessel für die musikalische Mitgestaltung heute Vormittag und Thomas Ehlke heute Nachmittag.

Mit der ersten Verlegung sind wir am Ende eines langen Weges angekommen. Der Gemeinderat hatte die Verlegung von Stolpersteinen schon einmal abgelehnt und über andere Formen des Gedenkens diskutiert. Im März 2012 hat der Geschichtsverein der Gemeinde mitgeteilt, dass er selbst als verantwortlicher Träger die Verlegung der Stolpersteine organisieren werde, sofern die Gemeinde die Nutzung des öffentlichen Raumes genehmige. Dies geschah durch einstimmigen Ratsbeschluss im Herbst 2012.

Seit diesem Zeitpunkt haben der Geschichtsverein und sein Arbeitskreis alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. Der AK hat sich regelmäßig getroffen. Viele neue Mitstreiter fanden sich dabei ein. Es wurde ein echtes bürgerschaftliches Projekt. Ich möchte deshalb von Herzen den Mitgliedern des Arbeitskreises danken, die mit großem Aufwand und umfangreichen Recherchearbeiten, die einzelnen Daten zu den Opferbiografien zusammengetragen haben und dabei sowohl im Bundesarchiv, beim NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz, in regionalen Archiven, in Yad Vashem und anderen Institutionen geforscht hätten. Ebenso danke ich den Niersteiner Zeitzeugen, die wertvolle Anregungen gegeben haben.

Meine Damen und Herren,

die anfängliche Skepsis im Rat, in Teilen der Bürgerschaft, aber auch die zahlreichen positiven Stimmen und die vielen Unterstützer zeigen von heute aus betrachtet, dass die Debatte dem Projekt sehr genutzt hat. Dies möchte ich auch als eine bemerkenswerte und positive Erfahrung werten. Durch die öffentliche Diskussion hat sich ein großer Kreis von Bürgerinnen und Bürgern zusammengefunden hat. Durch die regelmäßigen Berichte über unsere Arbeit wussten die Menschen in Nierstein bereits, was geplant war. Als wir etwa mit den heutigen Bewohnern und Eigentümer der Häuser gesprochen haben, ist uns wohl auch deshalb große Aufgeschlossenheit begegnet.

Ebenso haben sich in der Vorbereitungszeit Nachfahren von Opfern beim Geschichtsverein gemeldet und sich aktiv eingebracht. Dies gilt für die Verwandten von Georg Eberhardt, Frau Friedrich aus Dexheim und Familie Seitz-Thomas aus Landau, die ich herzlich begrüße.
Heute Nachmittag werden Enkel und Urenkel von Jakob Schuch mit dabei sein. Ebenso werden drei Enkelinnen von Cerry und Johann Eller an der Verlegung teilnehmen.

Darüber hinaus finden wir alle es außerordentlich erfreulich, wie viele Menschen für die Stolpersteine gespendet haben und sich als Paten eingebracht haben. Bis heute sind über 7000 Euro Spenden von Einzelpersonen und Vereinen zusammengekommen. Ihnen allen gilt unser Dank. Aus diesen Spenden können wir die erste Verlegung finanzieren und es bleibt Geld für einen Teil der weiteren rund 30 Stolpersteine, die in voraussichtlich zwei weiteren Schritten in den Folgejahren erfolgen soll. Weitere Unterstützung ist für deren Realisierung jedoch notwendig.

Meine Damen und Herren,

es ist jetzt genau 80 Jahre her, als 1933 Hitler die Macht übertragen und ihm der Verfassungsstaat durch das Ermächtigungsgesetz in die Hände gegeben wurde. Einmal an der Macht schaltete er die Gegner aus und errichtete in kurzer Zeit einen Unrechtsstaat. 1933 konnten alle diese ersten Schritte sehen. Das Lager Osthofen, in das auch Niersteiner eingeliefert wurden - in der damaligen Zeitung wurde darüber berichtet. Die Gleichschaltung der Vereine gehörte dazu, NS-Parteigenossen übernahmen das Ruder. Die Demütigung und Ausgrenzung jüdischer Mitbürger, die auch in Nierstein bis dahin als Handwerker, Arbeiter, Händler und Weinkommissionäre lebten, konnte niemand verborgen bleiben. 1933 konnte sich noch niemand den Holocaust vorstellen. Jeder aber anständig denkende Mensch hätte den Anfängen wehren können.

Das bleibt unsere Verpflichtung heute: Intoleranz und Ausgrenzung, Antisemitismus und anderen Diskriminierungen entgegen wirken, aufmerksam bleiben, den Mut haben, für die Schwachen einzutreten und sie zu schützen, den Rechtsstaat zu bewahren. Neuen Nazis entschlossen entgegen treten - Keine Toleranz der Intoleranz.

Das sind wir den Opfern schuldig - und uns selbst. Lassen Sie mich schließen mit der Erinnerung an Leo Trepp, den aus Mainz vertriebenen Oberrabiner, der im Herzen immer ein Deutscher und ein Mainzer geblieben ist und der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Leo war auch gerne in Nierstein und sein letzter Besuch war vor vier Jahren beim Weinfest am Roten Hang.

Leo Trepp hat uns 2005 sinngemäß diese Worte hinterlassen: Deutschland muss Vorkämpfer gegen Antisemitismus und Menschenhass sein. Die Verantwortung aus der Vergangenheit annehmen, bedeutet aktiv sein im Kampf gegen Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Schulstunden über die Shoa zu halten, damit die Schüler merken, dass es etwas mit ihnen zu tun hat. Deutschland hat viel geleistet, aber es hat auch mehr zu leisten als andere Länder. In der Aufarbeitung der Vergangenheit wird Deutschland ethisch immer größer. Das ist meine Hoffnung, so Leo Trepp. Seine Hoffnung in uns sollten, seine Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen.

Heute also kehren die Namen von 30 Niersteinerinnen und Niersteinern, die Opfer des Terrors der Nationalsozialisten geworden sind, zurück in unsere Stadt.

Behalten wir diese Menschen, ihr Schicksal und ihre Verfolgung in unserer Erinnerung und betrachten wir diese Heimkehr als Verpflichtung."