Rede des Landtagspräsidenten Hendrik Hering
Gedenkfeier für die Kornsand-Opfer

Freitag, 21. März 2025, 18:00 Uhr, am Mahnmal auf dem Kornsand gegenüber Nierstein

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Bürgerinnen, liebe Bürger,
 

wir sind heute zusammengekommen, um an sechs Menschen zu erinnern, fünf Männer und eine Frau: die Niersteiner Georg Eberhardt, Nikolaus Lerch und Jakob Schuch, das Ehepaar Johann und Cerry Eller und der Oppenheimer Uhrmachermeister Rudolf Gruber.

Sie galten den lokalen Nationalsozialisten als Regimegegner. Sie waren KPD-Mitglieder, Sozialdemokraten und Mitglieder des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Zum Teil hatten sie schon 1933/34 im KZ Osthofen eingesessen. Die Frau unter ihnen, Cerry Eller, hatte nach der Rassenideologie der Nationalsozialisten - als so genannte - Halbjüdin kein Recht auf Leben. Noch am Vormittag des 21. März 1945, einem Mittwoch, waren alle fünf bis auf Gruber von der Gestapo in Darmstadt entlassen worden mit den Worten: „Ihr seid frei und könnt nach Hause gehen“.

So machten sie sich auf den Weg nach Hause. Doch sie wurden denunziert. Man hielt sie hier auf der rechten Rheinseite fest und hinderte sie daran, mit der Fähre überzusetzen. Von fanatischen Nationalsozialisten wurden sie ermordet.

Das sechste Opfer, Rudolf Gruber, war zum Volkssturm eingezogen worden und wollte, so der Vorwurf, desertieren. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. An ihm wurde ein Exempel statuiert. Die NS-Führung verlangte, jeder, der seine Aufgabe nicht unter vollem Einsatz des eigenen Lebens löse, sei zu beseitigen. Auch er wurde ermordet.

Machen wir uns die Situation klar: Diese sechs Menschen hatten zwölf Jahre Diktatur überlebt. Sie waren für ihre politischen Überzeugungen verfolgt worden. Das Ende des Krieges – es war nun mit Händen greifbar. Auf der linken Rheinseite waren schon die weißen Fahnen gehisst. Es war zu hören, wie die alliierten Panzer durch die Dörfer rollten. Und doch morden die Nazis weiter. Gerade die Absurdität und Sinnlosigkeit dieser Morde, wenige Stunden vor der absehbaren Niederlage, machen diese Verbrechen bis heute schwer erträglich. Es war das letzte Mal, dass sich hier das Böse durchgesetzt hat. Gerade deshalb erschüttern uns diese sogenannten „Endphaseverbrechen“ bis heute.

Gemeinsam mit den Nachfahren gedenken wir der Opfer. Sie waren mutige Bürgerinnen und Bürger: Georg Eberhardt, das Ehepaar Eller und Jakob Schuch hatten mit ihren Familien Mitte der 1920-er Jahre versucht, eine Existenz in Brasilien aufzubauen. Sie waren gescheitert und zurückgekehrt: In ihrer Heimat, in Nierstein, hatten sie wieder bei null angefangen.

Was sie jedoch von diesem Ausflug in die Welt mitbrachten war ein weiter Horizont und ein feines Gespür für soziale Fragen und Gerechtigkeit. Es mündete in ihren Widerstand gegen das Regime. Sie waren geachtete Bürgerinnen und Bürger von Nierstein und Oppenheim. Auch das wurde an jenem Mittwoch vor 80 Jahren deutlich, denn: Alle Einheimischen haben sich geweigert, den Hinrichtungsbefehl auszuführen.

Auch an sie wollen wir erinnern. Sie sind ihrem Gewissen gefolgt. Sie haben sich geweigert, die Exekution durchzuführen: die Leute des Volkssturms, Flakzugführer Ertel und Leutnant Wesemann. Es gab Handlungsspielraum! Es musste erst ein Auswärtiger angefordert werden, ein 18-jähriger Leutnant aus Mayen, der die Waffe hob und schoss.

Meine Damen und Herren, warum ist es so wichtig, dass wir auch heute noch, 80 Jahre später, an diese Vorgänge erinnern?

Das Erinnern, das Verdrängen und Vergessen – das alles sind menschliche Vorgänge. Sie sind zunächst einmal weder gut noch schlecht. Wir brauchen sie, um das Leben zu bewältigen. Mehr noch: Zum Erinnern gehört Vergessen notwendig dazu. Wenn ein Erlebnis einen Menschen überfordert, so ist er in der Lage es zu verdrängen, aus dem Gedächtnis zu streichen. Die Erinnerung sortiert Wichtiges von weniger Wichtigem.

Mit dem Erinnern an die Kornsand-Verbrechen wollen wir bezeugen, dass die Ereignisse von damals zu dem Wichtigen gehören. Damit richten wir uns auch gegen das Verleugnen.

  • Wenn wir der Opfer des Kornsands gedenken,
  • wenn wir mit dem Rheinland-Pfälzischen Landtag am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus innehalten und über den wachsenden Antisemitismus, Hass und Rassismus nachdenken - wie vor zwei Monaten in der Neuen Synagoge in Mainz,
  • wenn der Landtag die Gedenkstätten in Osthofen und Hinzert und die Landeszentrale für politische Bildung seit mehr als drei Jahrzehnten mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausstattet,

dann tun wir das aus gutem Grund: Gedenkarbeit hält das wach, was viele nicht - oder nicht mehr - erinnern und in seiner Bedeutsamkeit erfassen möchten:

Gedenkarbeit führt vor Augen, was passiert, wenn unsere Demokratie verloren geht!

Bald sind keine Holocaust-Überlebenden mehr bei uns. Ich habe es am 27. Januar in der Mainzer Synagoge gesagt und ich sage es auch heute: Wir werden und wir wollen wir die Erinnerung an das, was war, stärker als bisher in die eigenen Hände nehmen. Wir müssen erwachsen werden! Wir müssen eine Erinnerungskultur aufbauen, die möglichst viele erreicht. Und dafür sind wir gut beraten, in einem Land wie Rheinland-Pfalz in die Fläche zu gehen. Wir brauchen dezentrale Gedenkorte wie den Kornsand!

Vorbildlich in anderen Orten vertuscht und verdrängt

Ihnen ist hier in Nierstein, Oppenheim und Trebur gelungen, was nicht selbstverständlich ist: Über Jahrzehnte und über den Rhein hinweg haben Sie, getragen von bürgerschaftlichem Engagement, viele Widerstände überwunden – und nichts geringeres als eine Landesgrenze. Wenn man auf den Einladungszettel schaut, stehen als Veranstalter viele Namen. Sie haben ein breites Bündnis geschaffen. Und keine Arbeit und Mühe gescheut.

Denn Gedenken und Erinnern ist Arbeit, und zwar keine leichte Arbeit! Sich immer wieder, mit den Schrecken der NS-Zeit auseinander zu setzen, Kenntnisse über eine Zeit zu vermitteln, die viele am liebsten vergessen und verdrängen möchten, das ist harte Arbeit, sowohl psychisch, als auch physisch.

Sie haben die Erinnerung an das Kornsandverbrechen wachgehalten und sie weitergegeben. Das macht Ihr Projekt einzigartig für Rheinland-Pfalz und Hessen. Als ich im vergangenen Jahr gefragt wurde, ob ich heute hier sprechen möchte, habe ich deshalb ohne zu zögern „ja“ gesagt.

Mein Dank geht stellvertretend für alle Mitwirkenden an den Arbeitskreis Kornsandverbrechen mit seinen Institutionen und Einzelpersonen, an die Gemeinde Trebur und den Geschichtsverein Nierstein.

Denn die Aufarbeitung der Endphaseverbechen steckt auch heute, 80 Jahre später, noch in den Kinderschuhen. Oft sind es die Geschichtsvereine die erforschen, was passiert ist. Erst letzte Woche hat der Verein „Hechtsheimer Ortsgeschichte“ in Mainz zum ersten Mal an drei Opfer der dortigen Endphaseverbrechen erinnert. Ihre Namen sind Karl Hammen, Matthias Adam Meinhard und Adam Schuch. Sie wurden am 20. März 1945 ermordet, weil sie in Hechtsheim die weißen Fahnen gehisst hatten. Am selben Tag wurde auch in Lahnstein ein Mensch mit einer weißen Fahne erschossen. Überall hat sich das Regime von Heinrich Himmler gegen Ende des Kriegs in dramatischem Ausmaß radikalisiert und gegen die eigene Bevölkerung gewandt.

Ich bin überzeugt, gerade hier rechts und links des Rheins die Endphaseverbrechen systematischer zu erforschen, würde sich lohnen: Lokalhistoriker, Schulklassen und lokale Projekte könnten neue, dezentrale Gedenkorte schaffen, die kommenden Generationen einen emotionalen Bezug zur Geschichte ermöglichen: Nicht in Ritualen erstarren, sondern Geschichte lebendig machen – durch die Schicksale des eigenen Ortes und die Geschichten aus der eigenen Familie. Wir müssen noch viel mehr Fragen stellen. Fragen wie: Waren Jakob Schuch aus Nierstein und Adam Schuch aus Hechtsheim vielleicht verwandt? Wir müssen viel mehr von diesen Geschichten ans Licht bringen und erzählen. Noch viel mehr müssen wir uns trauen, Erinnerungen zuzulassen. Das kann persönlich schmerzhaft sein, doch der Gewinn für unsere demokratische Zukunft wiegt ungleich schwerer. Besonders für Schulen eröffnet sich hier eine spannende und wertvolle Aufgabe – nicht nur für die historischen Seminare an den Universitäten.

Diese neuen Erinnerungsorte würden zum Nachdenken anregen über Befehl und Gehorsam, über Demokratie, Menschenrechte und vor allem über Zivilcourage. Sie könnten einen wichtigen Beitrag leisten zur historisch-politischen Bildung. Aber auch die deutsch-amerikanische Freundschaft festigen.

Denn als die Amerikaner in der Nacht zum 21. März 1945 eine Behelfsbrücke an dieses Ufer gebaut hatten, brachten sie etwas mit, das die Deutschen aus eigener Kraft nicht geschafft hatten: Befreiung, Frieden und Demokratie. Daran erinnert das Rhine River Crossing Memorial in Nierstein, wo morgen ebenfalls ein Gedenken stattfindet.

Meine Damen und Herren, Beispiele wie Nierstein, Hechtsheim und Lahnstein gibt es in Rheinland-Pfalz noch unzählige mehr. Überall spielten sich damals dramatische Ereignisse ab. Sie zeigen, dass Demokratie nicht von selbst da ist, wenn Krieg und Diktatur zu Ende gehen.

Es ist unsere historische und demokratische Verpflichtung, allen historischen Wahrheiten ins Auge zu blicken, nichts zu beschönigen, zu vertuschen oder zu verschweigen. Dies sind wir den unzähligen Opfern dieser Zeit schuldig. Dies sind wir auch unseren Kindern schuldig. Dies sind wir vor allem auch unserer Demokratie schuldig. Unser Staat braucht uns als fortwährend aktive Demokraten! Er braucht Menschen, die sich für die Verfassung und für die Menschenrechte einsetzen. Es ist nicht nur die Aufgabe des Staats, sondern auch die der Bürger, den Rechtsstaat tatkräftig zu unterstützen. Aktiv demokratisch handeln heißt nicht darauf zu warten, dass Politik, Justiz und Polizei gegen die Kräfte vorgehen, die die Demokratie bedrohen. Es kommt auf uns alle an!

Meine Damen und Herren, im Gedenken an das Kornsand-Verbrechen machen wir uns auch bewusst, wie zerbrechlich der Firnis unserer Zivilisation g ist. Solidarität mit den Schwachen, Frieden, Demokratie - Es ist eine Illusion zu glauben, dieser Zivilisationsprozess kenne wie der Strom, an dem wir hier stehen, nur eine Richtung. Der Hass, der damals zu solchen Taten geführt hat, hat nicht einfach aufgehört zu existieren. Wir erleben heute, dass die Verachtung gegenüber dem Anderen wieder anbrandet, wie der Strudel von Rassismus, Intoleranz und verbaler Gewalt wieder zunimmt: in den sozialen Medien, in politischen Rhetoriken, in der Instrumentalisierung des Schicksals von Flüchtlingen und Migranten im Wahlkampf.

Zeitzeugen erleben diese Strömungen unserer Gegenwart mit zunehmender Beklemmung. „So hat es damals auch angefangen“, warnen Holocaustüberlebende, die noch bei uns sind, wie Margot Friedländer und Eva Umlauf.

Nehmen wir ihre Mahnung ernst, sehr ernst. Es ist unsere Aufgabe, diesen Entwicklungen entgegen zu stemmen im Geist des Miteinanders, der Solidarität und des Friedens. Noch ist es nicht zu spät.

Halten wir zusammen – und halten wir fest an den Prinzipien der Toleranz, des Dialogs und der Wahrheit. Bauen wir Brücken zu den Anderen: Kämpfen wir dafür, dass jeder Mensch in unserem Ort, in unserer Stadt und in unserem Land in Würde leben kann, ohne Angst vor Ausgrenzung oder Gewalt. Achten aufeinander. Nach dem Gedenken beginnt die Zukunft – und zwar jetzt!

 

Vielen Dank.

 

     

Nierstein, 21. März 2025