Ansprache von Hans-Peter Hexemer, Vorsitzender des Geschichtsvereins Nierstein, am 9. November 2023
zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht 1938 und des Hamas-Terrors 2023

"85 Jahre nach der Reichspogromnacht von 1938 begrüße ich Sie alle zum Rundgang auf den Spuren jüdischen Lebens in Nierstein als Vorsitzender des Geschichtsvereins gemeinsam mit meinem Vorstandskollegen Jörg Adrian, der die Führung übernehmen wird.

Wir erzählen heute Abend von der Bedrohung, Verfolgung und Ermordung jüdischer Niersteiner, wir erinnern uns entlang der Stolpersteine an die Geschichte und betonen das „Nie wieder!“. Der Holocaust bleibt das dunkelste Kapitel und doch haben wir heute das Gefühl, dass die Bedrohung jüdischen Lebens nicht vorbei ist. Im Gegenteil! Ja, unser Staat schützt heute die Würde des Menschen, seine Religionsfreiheit, seine Unversehrtheit. Aber wie steht es um unsere Gesellschaft? Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung macht uns wenig Hoffnung. Der Antisemitismus ist bis in die Mitte unserer Gesellschaft vorhanden. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir Gedenken - Erinnern - Mahnen, dass wir Aktivität und Aktion fordern: Nie wieder ist jetzt!

Wenn wir an die Geschichte erinnern, dann müssen wir heute auch die aktuelle Bedrohung der Juden im Nahen Osten erinnern, an den brutalen Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 - 85 Jahre danach werden Menschen in Israel durch die Hamas ermordet und verschleppt - grausam, menschenverachtend, bestialisch. Historische Vergleiche will ich nicht anstellen. Aber eines haben der 11. November 1938 und der 7. Oktober 2023 gemeinsam: Jüdinnen und Juden waren und sind die Opfer - damals und heute. Darüber gibt es deshalb für mich keinen Zweifel: Unser Platz muss an der Seite der Opfer sein und bleiben!

Antisemitismus treibt nicht nur die Terroristen an. Antisemitismus ist gegenwärtig und ach bei auch bei uns im Land auszumachen. Antisemitismus ist ein schleichendes Gift und es schleicht sich von verschiedenen Seiten und unter verschiedenen Deckmänteln ein und irgendwann gibt es kein Gegengift mehr. In unserer Geschichte haben wir das schon erlebt. Wir Deutschen sind gewarnt. Wir müssen auf die Warnung aus unserer Geschichte und die Situation von heute reagieren. Teilnahmslos dastehen dürfen wir nicht. Wir müssen Flagge zeigen, müssen aufstehen, dürfen nicht in der Zuschauerloge bleiben. Was wir brauchen, ist einen Aufstand der Anständigen - in Deutschland und anderswo in der Welt. Und: wir müssen klar aussprechen, was ist und dürfen nichts beschönigen.

Antisemitismus ist in der Gesellschaft latent vorhanden und greift bis in ihre Mitte. Die Zahl der antisemitischen Straftaten nimmt seit Jahren zu, die Dunkelziffer auch. Es sind nicht nur die Strafverfolgungsbehörden, wir alle sind gefordert, Zivilcourage zu zeigen und jeder Form von Judenfeindlichkeit entgegenzutreten. Es fängt an mit blöden, scheinbar unbedachtem Geschwätz und es endet mit Anschlägen wie dem in Halle. Damals wie heute schweigen zu viele Menschen. Das muss sich ändern, wenn wir nicht wollen, dass das Gift des Antisemitismus weiter schleicht und unsere Gesellschaft total vergiftet. Und dieses Gift kommt von Rechtsextremen und es wird zunehmend auch eingespritzt von islamischen Fanatikern.

Das, was sich nach dem bestialischen Terrorangriff auch auf deutschen Straßen gezeigt hat, erschreckt mich zutiefst. Sich für die Sache der Palästinenser einzusetzen und friedlich zu demonstrieren ist das eine. Das andere ist, sich über Demonstrationsverbote hinwegzusetzen, Autos anzuzünden, Gewalt gegen andere und unbeteiligte Personen, gegen Polizisten und Sicherheitskräfte auszuüben, den Tod der Juden zu fordern oder Juden tätlich anzugreifen, den Gottesstaat, das Kalifat zu propagieren. Das kann niemals geduldet werden, nirgendwo in Deutschland. Wer in Deutschland lebt, leben will, der muss zweifelsfrei unsere Verfassung anerkennen. Wer das nicht will, stellt sich selbst ins Abseits. Wer Straftaten begeht muss durch unsere Rechtsordnung verfolgt; nötige härtere Gesetze eingeschlossen. Wer zu uns kommt und unser Grundgesetz missachtet, den will ich hier auf Dauer nicht sehen. Völlig zu Recht fordert etwa die Gewerkschaft der Polizei, militante Islamisten abzuschieben. Sie provozieren und missachten unseren Stadt - das dürfen wir nicht hinnehmen. Deren Gewalt ist kein Mittel - niemals!

Haben Sie schon mal von Demonstrationen „Pro Israel“ gehört, von denen Gewalt ausging? Haben Sie je gehört, dass es dabei nicht friedlich geblieben ist? Gehört, dass Menschen anderen Glaubens bedroht worden sind? Nein, das gab und das gibt es nicht! Die Juden waren die Opfer damals und sie sind es heute. Machen wir uns klar: Israel macht anderen Staaten ihr Existenzrecht nicht streitig. Wohl aber wird Israel das Existenzrecht seit seiner Gründung von seinen Nachbarn streitig gemacht - nicht mehr von allen Staaten, aber vor allem von den Palästinensern, der Hamas, der Hisbollah, dem Iran und anderen Staaten im Nahen Osten - bis hin zum brutalst möglichen Terrorangriff vor gut vier Wochen. Das bestialische Ermorden von mehr als 1400 Menschen - vom Baby bis zum Greis - bleiben für uns unvorstellbare, unmenschliche, widerliche und abscheuliche Taten, die mit Worten kaum zu fassen sind.

Seitdem kämpft Israel um seine Existenz, kämpft darum, dass Menschen jüdischen Glaubens in Sicherheit leben können. Dieses Recht auf Selbstverteidigung kann Israel niemand absprechen.
Doch während religiöse Fanatiker und Eiferer, Hassprediger und Gehirnwäsche-Propagandisten die islamische Welt und Moslems auch bei uns unentwegt aufhetzen und zur Vernichtung Israels aufrufen, wird in Israel um die angemessene Antwort gerungen, gibt es dort Demonstrationen für die Freilassung der Geiseln, Appelle an die Regierung behutsam vorzugehen, innenpolitisch ein breites Spektrum an Meinungen - einer Demokratie angemessen. Um Israel herum gibt es keine Demokratien, sondern mehr oder weniger autoritäre Staaten bis hin zu ausgemachten Unrechtsregimen, wo es keine Menschenrecht und Freiheiten, sondern nur Unterdrückung gibt.
Israel verteidigt nicht nur seine Sicherheit, sondern auch die einzige Demokratie im Nahen Osten.

Natürlich trauen wir um alle unschuldigen Opfer, auch die im Gaza-Streifen. Nur dort gibt es keinen Protest gegen die Hamas, die die eigenen Landsleute bewusst opfert. Und bei uns im Land: wo bleibt der Protest friedlicher Muslime gegen den Terror der Hamas, wo der Aufruf zum Frieden durch Einstellung des Raketenbeschusses auf Israel?

In dieser Situation kann ein anständiger, menschlich fühlender und denkender Bürger in Deutschland, nicht neutral sein. Wir müssen Position beziehen.

Gerade am 9. November müssen wir es klar aussprechen:
Vor 85 Jahren waren die Nazis und der von ihnen organisierte sogenannte Volkszorn die Täter.
Damals haben zu viele abseits gestanden. Damals hat unser Volk versagt.
Heute sind die Schergen der Hamas und ihre Unterstützer die Täter.
In dieser Situation dürfen wir Deutsche nicht versagen - nicht noch einmal!

Deshalb sind wir heute zusammen, um mit Blick auf die Geschichte und die Gegenwart ein Zeichen der Solidarität und der Menschlichkeit zu setzen mit diesem Rundgang und dem abschließenden Gedenken der Stadt am Mahnmal:
Wir stehen an der Seite der Juden - hier bei uns im Land und in Israel!"

     
     

Nierstein, 09. November 2023